Entlastung ist kein Freibrief für den Vorstand
Selbst wenn die HV einer Aktiengesellschaft Vorstand und Aufsichtsrat entlastet, sind Schadenersatzansprüche gegen die Organe in der Regel möglich.
In der Regel ist die Entlastung von Vorstands- und Aufsichtratsmitgliedern auf einer Hauptversammlung eine Routinesache, über die sich die Aktionäre keine großen Gedanken machen. Aber angesichts des steigenden Interesses an gesellschaftsrechtlichen Haftungsfragen stellt sich Aktionären immer öfter die Frage, was eine solche Entlastung bewirkt. Manche fürchten, dass, wenn sie für die Entlastung stimmen, die Gesellschaft auf Ersatzansprüche gegen die Organmitglieder verzichtet oder gar sie selbst durch ihr Stimmverhalten haftbar werden.
Das Aktiengesetz sieht in § 104 Abs. 2 Z 3 vor, dass die Hauptversammlung - also die Aktionäre - über die Entlastung der Mitglieder des Aufsichtsrats und Vorstands für das vorangegangene Geschäftsjahr zu entscheiden hat. Wird einem Organmitglied die Entlastung erteilt, so wird damit grundsätzlich dessen Arbeit in der Vergangenheit gebilligt und das Vertrauen für die Zukunft bezeugt. Fraglich ist hingegen, ob damit auch auf Schadenersatzansprüche gegen das entlastete Organmitglied verzichtet wird.
Freie Entscheidung
Die Aktionäre können frei entscheiden, ob sie der Entlastung zustimmen oder nicht. Sie können die Entlastung auch verweigern, wenn es Hinweise auf Pflichtverstöße des jeweiligen Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieds gibt. Andererseits steht es der Hauptversammlung auch frei, die Organmitglieder trotz Pflichtverstößen zu entlasten. Nur bei erheblichen Verstößen gegen Gesetze (wenn kein vernünftiger Aktionär die betreffenden Organe entlasten würde) oder im Fall von kriminellen Handlungen der Organmitglieder kann es unter Umständen die Möglichkeit einer Anfechtung des Entlastungsbeschlusses wegen Gesetzwidrigkeit geben. Die Organmitglieder der Gesellschaft haben jedenfalls keinen klagbaren Anspruch auf Entlastung.
Grundsätzlich trifft Aktionäre keine Schadenersatzpflicht für ihre Stimmausübung; dies nach § 101 Abs 3 AktG nicht einmal dann, wenn sie durch die Stimmausübung "gesellschaftsfremde Sondervorteile" verfolgen. Bloß bei sittenwidrigem Stimmrechtsmissbrauch können nach dem allgemeinen Zivilrecht (§ 1295 Abs 2 ABGB) Schadenersatzansprüche der Geschädigten gegeben sein.
Keine Selbstentlastung
Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder, die gleichzeitig Aktionäre sind, dürfen nicht über ihre eigene Entlastung abstimmen. Dies gilt sowohl bei Einzelabstimmung - wenn über jedes Mitglied einzeln bzw. namentlich abgestimmt wird - als auch bei gemeinsamer Abstimmung, wenn einmal für den Vorstand und einmal für den Aufsichtsrat abgestimmt wird. Bei einer Einzelabstimmung dürfen die Organmitglieder jedoch für ihre Kollegen mitstimmen.
In Österreich ist die Wirkung der Entlastung, anders als in Deutschland, nicht gesetzlich geregelt. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (3. 7. 1975, 2 Ob 356/74; 5. 8. 2008, 6 Ob 28/08y) führt die Entlastung nicht automatisch zum Verzicht auf Schadenersatzansprüche gegen das entlastete Organmitglied. Sie ist grundsätzlich nur als Billigung der Geschäftsführung bzw. als Ausdruck des Vertrauens in diese zu betrachten.
Vollständige Anwesenheit
Anderes gilt, wenn alle Aktionäre die Entlastung beschließen, also Repräsentanten für 100 Prozent der Aktien in der Hauptversammlung anwesend oder vertreten sind und für die Entlastung stimmen. In diesem Fall geht der OGH davon aus, dass es zu einer Verzichtswirkung (Präklusion) der Gesellschaft auf Ersatzansprüche gegen die Organmitglieder kommt. Der Entlastungsbeschluss entfaltet zugunsten der entlasteten Organmitglieder eine haftungsbefreiende Wirkung.
Ein Teil der Lehre spricht sich jedoch gegen eine Verzichtswirkung der Entlastung vor Ablauf der im Aktiengesetz festgelegten fünfjährigen Sperrfrist für den Verzicht auf Ersatzansprüche gegen Organmitglieder aus.
Jedenfalls kann es immer nur für solche Ersatzansprüche zu einer Verzichtswirkung kommen, die den Aktionären nach sorgfältiger Prüfung aller ihnen zugänglichen Unterlagen und erstatteten Berichte auch erkennbar waren.
Viele nichtbörsennotierte Aktiengesellschaften, insbesondere Familien-AGs, haben im Gegensatz zu börsennotierten AGs eine "geschlossene" Eigentümerstruktur, die die Anwesenheit sämtlicher Aktionäre in der Hauptversammlung wahrscheinlicher und eine 100-Prozent-Zustimmung für die Entlastung überhaupt möglich macht.
Bei solchen Gesellschaften wird es daher in der Praxis wesentlich häufiger zu einer Verzichtswirkung der Entlastung kommen. Bei börsennotierten AGs hingegen stellt sich die Frage nach einem Verzicht durch die Entlastung in der Praxis kaum, weil es aufgrund des Streubesitzes faktisch unmöglich ist, dass alle Aktionäre bei der Hauptversammlung anwesend oder vertreten sind und der Entlastung zustimmen.