Der OGH hat sich in einer neuen Entscheidung umfassend mit Konzernleitungs- und Konzernüberwachungspflichten auseinandergesetzt. Im konkreten Fall haftet ein Vorstandsmitglied einer Konzernmutter, weil es eine Patronatserklärung einer Tochtergesellschaft nicht dem Aufsichtsrat der Muttergesellschaft zur Genehmigung vorgelegt hat (OGH 25.11.2020, 6 Ob 209/20h).
Sachverhalt
Die Klägerin ist eine Konzern-Holdinggesellschaft. Sie ist unter anderem an einer Tochter-AG beteiligt, an der sie zwar nur 36 % hält, aber unter anderem über eine Stimmbindungsvereinbarung de facto bestimmende Aktionärin dieser Tochter-AG war. Der Beklagte war Mitglied des Vorstands der Holding-AG und Vorstandsvorsitzender der Tochter-AG.
Sowohl die Geschäftsordnung des Vorstands der Holding-AG als auch des Vorstands der Tochter-AG sahen vor, dass die Übernahme von Bürgschaften, Garantien und Patronatserklärungen – bei der Geschäftsordnung der Holding-AG auch einschließlich verbundener Unternehmen – der Zustimmung des jeweiligen Aufsichtsrats bedarf.
Die Tochter-AG übergab einer Bank einen Letter of Comfort – den der OGH als Patronatserklärung im Sinne der Geschäftsordnungen qualifizierte – zugunsten einer 100%igen Tochter-Gesellschaft (also einer Enkelgesellschaft der Holding-AG), den der Beklagte nicht dem Aufsichtsrat der Holding-AG zur Genehmigung vorgelegt hatte. Die Bank stellte unter anderem auf Grundlage dieses Letters of Comfort eine Garantie für ein Projekt aus. In der Folge kam es bei diesem Projekt zu Problemen. Schlussendlich wurde über das Vermögen der Enkelgesellschaft und kurz darauf auch über das Vermögen der Tochter-AG ein Insolvenzverfahren eröffnet.
Klage
Die Holding-AG brachte nun eine Klage gegen den Beklagten ein und argumentierte, dass der Beklagte als ihr Vorstandsmitglied vor Abgabe des Letters of Comfort die Zustimmung des Aufsichtsrats der Holding-AG einzuholen gehabt hätte. Hätte er dies getan, hätte der Aufsichtsrat die Zustimmung verweigert, die Bank hätte keine Garantie ausgestellt und die Enkelgesellschaft hätte nicht den Zuschlag für das Projekt erhalten. Folglich wäre die Tochter-AG auch nicht in die Insolvenz geschlittert.
Konzernleitung und -überwachung
Das Berufungsgericht vertrat noch, dass dem Beklagten in seiner Funktion als Vorstand der Holding-AG als Konzern-Holding nicht die Befugnis zugekommen sei, in die Geschäftsleitung bei der Tochter-AG einzugreifen.
Der OGH hielt dazu fest, dass zwar die Konzernunternehmen rechtlich selbstständig sind und der Vorstand der Konzernobergesellschaft gerade nicht befugt ist, direkt in die Leitung einer Tochtergesellschaft einzugreifen. Es ist allerdings übliche Praxis, dass den Vorständen der Konzerngesellschaften von der Konzernleitung Weisungen erteilt werden. Es ist eine gewisse Konzernleitungspflicht des Vorstands der Muttergesellschaft anzuerkennen. Je nach Lage des Einzelfalls hat die Konzernleitung straffer oder lockerer zu erfolgen.
Auch die Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats erweitert sich im Konzern um die Überwachung der Tätigkeit des Vorstands im Zusammenhang mit dessen Konzernleitung. Diese Konzernüberwachung erstreckt sich nicht auf jede einzelne Tätigkeit einer Tochtergesellschaft, sondern vielmehr nur auf solche Themen und Geschäfte, die auch tatsächlich "konzernrelevant" sind. Die Konzernrelevanz ist aus dem Blickwinkel der Obergesellschaft, dh die Auswirkungen auf diese, zu beurteilen. Konzernrelevanz ist regelmäßig dann anzunehmen, wenn sich Maßnahmen einer Tochtergesellschaft auch auf die Vermögens-, Ertrags- und Finanzlage der Muttergesellschaft nicht bloß unbedeutend auswirken. Der Aufsichtsrat der Konzernobergesellschaft muss sich daher quasi aus einer Art Vogelperspektive mit allen für den Konzern wesentlichen Geschäften beschäftigen.
In Anbetracht der den Vorstand der Obergesellschaft treffenden Konzernleitungspflicht hat dieser den Aufsichtsrat auch über konzernrelevante Themen der Tochtergesellschaften zu informieren.
Ein Katalog an zustimmungspflichtigen Geschäften gilt zwar nur für jene Gesellschaft, der der Aufsichtsrat angehört. Im Konzern kann den Aufsichtsrat aber die Verpflichtung treffen, den Zustimmungsvorbehalt auf außerordentliche Geschäftsführungsmaßnahmen von Beteiligungsgesellschaften zu erstrecken, und zwar dann, wenn diese wesentliche Auswirkungen auf den Gesamtkonzern, insbesondere auf die Muttergesellschaft, haben. Dem OGH zufolge können Zustimmungsvorbehalte selbst dann eine konzernweite Wirkung entfalten, wenn das die Satzung oder die Geschäftsordnung nicht wörtlich vorsehen. Der Katalog ist zwar nicht schematisch 1:1 auf Maßnahmen und Geschäfte von Tochtergesellschaften umzulegen, liegt aber ein konzernrelevantes zustimmungspflichtiges Geschäft auf Ebene eines Konzerngliedes vor, ist dieses auch vom Aufsichtsrat der Konzernobergesellschaft zu genehmigen.
Handlungspflichten
Der Vorstand der Tochtergesellschaft ist zur Vorlage an "seinen" Aufsichtsrat verpflichtet. Er ist aber nicht verpflichtet, die Zustimmung des Aufsichtsrats der Muttergesellschaft einzuholen.
Der Vorstand der Muttergesellschaft wiederum ist dem OGH zufolge verpflichtet, auf die betreffende Tochtergesellschaft dahingehend einzuwirken, dass die erfassten außerordentlichen Geschäftsführungsmaßnahmen nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden, zu deren Erteilung es auf der Ebene der Muttergesellschaft wiederum der vorherigen Einwilligung deren Aufsichtsrats bedarf. Sollte der Aufsichtsrat der Obergesellschaft die Zustimmung zu einem bestimmten Geschäft verweigern, ist der Vorstand der Muttergesellschaft angehalten, darauf hinzuwirken, dass die beabsichtigte Maßnahme in der jeweiligen Beteiligungsgesellschaft unterbleibt.
Durch Doppelmandate, bei denen Vorstandsmitglieder der leitenden Gesellschaft gleichzeitig auch Vorstandsmitglieder von Tochtergesellschaften sind, kann sichergestellt werden, dass in der Tochtergesellschaft eine Maßnahme nicht ausgeführt wird, bevor nicht die Zustimmungen von Vorstand und Aufsichtsrat der Muttergesellschaft erteilt sind.
Haftung im konkreten Fall
Im konkreten Fall war in der Geschäftsordnung des Aufsichtsrats und des Vorstands der Holding-AG ein Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats in Bezug auf die Übernahme von Patronatserklärungen auch für die Tochter-AG vorgesehen. Dies war dem OGH zufolge nicht nur zulässig, sondern sogar geboten, weil das Eingehen von Haftungen in beträchtlicher Höhe eine Risikomultiplikation innerhalb des Konzerns verwirklicht und zweifellos eine konzernrelevante Angelegenheit darstellt.
Diese Verpflichtung hat der Beklagte, der zugleich Vorstandsmitglied der Holding-AG als auch der Tochter-AG war, missachtet. Er gab als Vorstand der Tochter-AG die Patronatserklärungen ab, wusste als Vorstand der Holding-AG aber, dass solche Patronatserklärungen ohne Zustimmung des Aufsichtsrats der Holding-AG nicht abgeschlossen werden durften. Damit hat er seine ihn gegenüber der Holding-AG treffende Pflicht zur Konzernleitung verletzt. Hätte der Beklagte als Mitglied des Vorstands der Holding-AG deren Aufsichtsrat befasst und hätte dieser tatsächlich die Zustimmung verweigert, wäre er als Vorstand der Holding-AG verpflichtet gewesen, alles zu unternehmen, um die Patronatserklärung zu verhindern. Er hätte also auf den Vorstand der Tochter-AG – somit auf sich selbst – entsprechend Einfluss nehmen müssen und die Abgabe der Patronatserklärung zu unterlassen gehabt. Er haftet daher für den dadurch eingetretenen Schaden.
Was heißt das nun für Konzerne?
Für österreichische Konzerne heißt dies, dass sie vor dem Hintergrund dieser OGH-Entscheidung die Satzungen und Geschäftsordnungen sowohl der Holding als der Tochtergesellschaften darauf durchsehen sollten, ob diese den in dieser neuen OGH-Entscheidung festgelegten Anforderungen entsprechen. Ist dies nicht der Fall, könnte dies – wie im streitgegenständlichen Sachverhalt – zu einer Haftung von Organmitgliedern führen.