DORDA Partner Elmar Drabek erwirkt Leitentscheidung zum nachhaltigen Schutz langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger in der Europäischen Union.
Drittstaatsangehörige, die wenigstens fünf Jahre rechtmäßig in Österreich niedergelassen waren, können ein unbefristetes Aufenthaltsrecht erwerben. Ende 2021 hatten in Österreich mehr als 300.000 Drittstaatsangehörige diesen Status inne, der die höchste Stufe der einwanderungsrechtlichen Integration vor der Verleihung der Staatsbürgerschaft bildet.
Der entsprechende Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt – EU" des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) geht auf die Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25.11.2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (Richtlinie) zurück.
Im Interesse der Rechtssicherheit kommt der Verlust dieser besonderen Rechtsstellung nur in wenigen, von der Richtlinie präzise definierten Fällen in Betracht: etwa nach der Verurteilung wegen schwerer Straftaten, einer Abwesenheit aus Österreich von mehr als sechs Jahren (bei Übersiedlung innerhalb des Gebiets der Gemeinschaft) oder einer Abwesenheit von mehr als zwölf aufeinanderfolgenden Monaten aus dem Gebiet der Gemeinschaft (bei Übersiedlung in einen Drittstaat).
Nach dem Wortlaut der Richtlinie und des NAG tritt dieser Verlusttatbestand nicht ein, wenn der betroffene Drittstaatsangehörige nachweisen kann, sich pro Zwölfmonatszeitraum (nicht Kalenderjahr) wenigstens einen Tag in (irgend)einem EWR-Mitgliedstaat aufgehalten zu haben.
Nach dem Inkrafttreten des (die Richtlinie umsetzenden) NAG im Jahr 2006 spielte der Verlust der Rechtsstellung langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger in der Praxis der Niederlassungsbehörden und der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte nur eine untergeordnete Rolle. Vor einigen Jahren gingen die Behörden jedoch, insbesondere in Wien, dazu über, langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige anlässlich der Verlängerung ihrer Aufenthaltskarten (alle fünf Jahre) daraufhin zu überprüfen, ob diese Drittstaatsangehörigen weiterhin dauerhaft in Österreich niedergelassen wären und ihren Mittelpunkt der Lebensinteressen in Österreich hätten. Dabei stützten sich die Behörden auf eine europarechtlich nicht gedeckte Bestimmung des NAG, die zudem Jahre nach der Richtlinie erlassen wurde.
Unvermittelt sahen sich Drittstaatsangehörige fünf, zehn oder gar fünfzehn Jahre nach ihrer Erstniederlassung in Österreich mit detaillierten niederlassungsbehördlichen Nachfragen zu Arztbriefen, Kontoauszügen und vielen anderen Aspekten ihres Berufs- und Privatlebens während der letzten fünf Jahre konfrontiert.
Wer die Behörden nicht von einem fortgesetzten Mittelpunkt der Lebensinteressen in Österreich überzeugen konnte, verlor entweder jeglichen aufenthaltsrechtlichen Status oder wurde auf ein befristetes Aufenthaltsrecht zurückgestuft. Langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige, die in der zweiten Jahreshälfte 2020 nach monatelanger pandemiebedingter Abwesenheit nach Österreich zurückkehren wollten, wurden an der Einreise gehindert und meist ohne Aufklärung über die Möglichkeit der Erlangung befristeter Aufenthaltstitel zur Ausreise verhalten.
Diese Missstände hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit seinem Urteil vom 20.1.2022 (Rechtssache C-432/20) nachhaltig abgestellt. Unter besonderer Betonung des Grundsatzes der Rechtssicherheit hält der Gerichtshof fest, dass die Richtlinie den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten "von einem klaren, bestimmten und vorhersehbaren Kriterium abhängig [macht], das sich auf ein rein objektives Ereignis bezieht, sodass eine solche Auslegung am ehesten geeignet ist, den Betroffenen angemessene Rechtssicherheit zu garantieren". Deshalb, so der Gerichtshof, ist die Richtlinie dahingehend auszulegen, dass "jede physische Anwesenheit eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Gebiet der Europäischen Union während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten ausreicht, um zu verhindern, dass dieser Aufenthaltsberechtigte seine Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Bestimmung verliert, auch wenn eine solche Anwesenheit während dieses Zeitraums eine Gesamtdauer von nur wenigen Tagen nicht überschreitet". An diese Auslegung sind nunmehr alle mitgliedstaatlichen Niederlassungsbehörden und Gerichte gebunden.
Elmar Drabek, Partner und Leiter der Praxisgruppe Einwanderung & Staatsbürgerschaft bei DORDA, schritt vor dem Verwaltungsgericht Wien und dem EuGH für den Beschwerdeführer des Anlassfalles ein und begrüßt die klaren Worte des Gerichtshofes: "Das heutige Urteil beendet Jahre der Rechtsunsicherheit für mehr als dreihunderttausend langfristig Aufenthaltsberechtigte in Österreich und schützt Millionen langfristig Aufenthaltsberechtigte in der Europäischen Union vor der willkürlichen Durchleuchtung ihrer Lebensverhältnisse durch die Niederlassungsbehörden. Die schwerwiegende Rechtsfolge des Verlustes des Status eines langfristig Aufenthaltsberechtigten liegt nicht mehr im Ermessen einzelner Sachbearbeiter, sondern knüpft wieder an klare, bestimmte und vorhersehbare Kriterien an. Wir mussten in den letzten Jahren immer wieder erleben, dass mitunter leichtfertige Grundrechtseingriffe der Niederlassungs- und Staatsbürgerschaftsbehörden erst von nationalen und europäischen Höchstgerichten abgestellt wurden. Umso mehr gibt die am Grundsatz der Rechtssicherheit orientierte Entscheidung des EuGH Anlass zur Hoffnung, dass langfristig Aufenthaltsberechtigte in Österreich künftig wieder ein Leben in Rechtssicherheit führen können."