Seit langem werden harmonisierte technische Normen zur Vereinheitlichung des europäischen Binnenmarkts genutzt. Diese werden aber nicht von nationalen oder dem europäischen Gesetzgeber erlassen, sondern von privaten Organisationen und Unternehmen herausgegeben. In Österreich übt zB Austrian Standard International diese Funktion aus.
Die technischen Normen erlangen oftmals durch Verweise in Gesetzen und Verordnungen Gesetzesqualität. Ein prominentes Beispiel sind die ÖNORMEN. Anders als Gesetze sind die technischen Normen aber nicht frei zugänglich. Unternehmen müssen vielmehr kostenpflichtig Nutzungsrechte vom Normungsunternehmen erwerben, um Zugang zu erhalten.
Der Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat diese Praxis nun in der Entscheidung C-588/21 P kritisch hinterfragt und wesentliche Erleichterungen beim Zugang ausgesprochen:
Überwiegendes öffentliches Interesse bejaht
Ausgangspunkt des Rechtsstreits waren harmonisierte technische Normen über die Sicherheit von Spielzeug, auf die im Unionsrecht verwiesen wird. Zwei gemeinnützigen Organisation machten geltend, dass ein öffentliches Interesse am kostenlosen Zugang zu den verwiesenen harmonisierten Normen bestehe. Da diese Teil des Unionsrechts sind, sei dies nach dem Rechtsstaatsprinzip erforderlich.
Der EuGH folgte dieser Argumentation: Er stellte zunächst fest, dass harmonisierte Normen Teil des Unionsrechts seien. Ihre Ausarbeitung werde zwar von privaten Stellen vorgenommen, die Kommission spiele jedoch eine zentrale Rolle und überwache den Prozess. Die Einhaltung der harmonisierten Normen durch Produkte verleihe diesen die Vermutung der Konformität mit unionsrechtlichen Anforderungen und den Normen damit quasi Rechtsgültigkeit. Dies mache die Normen zu einem Werkzeug von wesentlicher Bedeutung für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr im Binnenmarkt. Aufgrund des Transparenzgrundsatzes müsse der Einzelne seine Rechte und Pflichten aus dem Unionsrecht klar erkennen können. Dementsprechend bestünde ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung von harmonisierten technischen Normen, auf die im Unionsrecht verwiesen wird.
Zugänglichkeit vs Urheberrechtsschutz von technischen Normen
Offengelassen und nur in den Schlussanträgen der Generalanwältin behandelt (und dort verneint) ist die Frage, ob harmonisierte technische Normen generellen urheberrechtlichen Schutz genießen. Hierzu wird in Österreich aktuell die Rechtsauffassung vertreten, dass dies bei rein nationalen ÖNORMEN grundsätzlich der Fall sei. Dies allerdings nur so lange, bis die konkrete Norm durch Gesetz oder Verordnung für verbindlich erklärt wird. Danach handelt es sich um ein freies Werk iSd § 7 UrhG ohne Urheberrechtschutz (§ 9 Normengesetz). Als gemeinfreies Werk können sie (genauso wie österreichische Gesetze, Verordnungen, amtliche Erlässe etc) von jedermann beliebig verwertet werden.
Auswirkungen der EuGH-Entscheidung
Auch wenn die Entscheidung des EuGH keine Aussage zum urheberrechtlichen Schutz von Normen trifft, wird sie in der Praxis Auswirkungen haben. So hat die Vielzahl der harmonisierten technischen Normen einen europäischen Ursprung. In Österreich werden diese als "ÖNORMEN EN" veröffentlicht. Sofern auf diese im Unionsrecht verwiesen wird, müssen sie aufgrund der jüngsten Entscheidung des EuGH frei zugänglich gemacht werden. Geklärt ist zwar nicht, ob sie auch gemeinfrei sind und daher beliebig verwertet werden können, wie dies bei durch Gesetz oder Verordnung verbindlich erklärten nationalen ÖNORMEN der Fall ist. Allerdings treten die damit einhergehenden Fragen der Zulässigkeit der Vervielfältigung und Verbreitung aufgrund der nunmehr ausgesprochenen Zugänglichkeit in den Hintergrund. Denn jeder Normnutzer erhält mit dieser Entscheidung die Möglichkeit, in die verwiesenen europäischen Normen Einsicht zu nehmen. Für eine Weitergabe zB im Rahmen eines Konzerns wird daher in vielen Fällen keine Notwendigkeit mehr bestehen, da sich jedermann den Zugang direkt verschaffen kann.
Fazit
Mit der vorliegenden Entscheidung hat der EuGH zwar nicht über die urheberrechtliche Schutzfähigkeit und seine Grenzen von europäischen harmonisierten Normen ausgesprochen. Sofern aber auf diese im Unionsrecht verwiesen wird, wird der faktische kostenfreie Zugriff für die Rechtsanwender ermöglicht. Es bleibt abzuwarten, wie die nationalen Normsetzungsorganisationen – wie auch das Austrian Standard International – die in der Entscheidung geforderte "freie Zugänglichkeit" umsetzen.
DORDA unterstützt Sie gerne bei der Prüfung und Durchsetzung Ihres Rechts auf freien Zugang zu den relevanten harmonisierten europäischen technischen Normen.