Der Europäische Gerichtshof (EuGH) urteilte unlängst, dass das im österreichischen Verwaltungsrecht vorherrschende Kumulationsprinzip bei der mehrfachen Begehung von Verwaltungsstraftaten mit der EU-Dienstleistungsfreiheit nicht in Einklang stünde. Anlassfall war eine Kontrolle der Finanzpolizei auf einer Baustelle – es wurden zu 217 (!) Arbeitskräften Verstöße gegen das Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz ("AVRAG") bzw gegen das Ausländerbeschäftigungsgesetz ("AuslBG") festgestellt. Was aber führte dazu, dass der EuGH darin einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit erkannte:
Doch zunächst einen Schritt zurück. Worum geht es beim "Kumulationsprinzip" überhaupt? Das Kumulationsprinzip des österreichischen Verwaltungsstrafrechts legt fest: Treffen mehrere Verwaltungsübertretungen zusammen, dann sind die Strafen nebeneinander zu verhängen. Für 217 Verstöße gegen arbeitsrechtliche Vorschriften fallen demzufolge 217 Strafen an – so geschehen im Anlassfall.
Ausgangsfall war die Sanierung und Wiederinbetriebnahme einer Industrieanlage, wofür ein österreichisches Unternehmen beauftragt wurde. Dieses vergab den Auftrag in Folge an ein kroatisches Unternehmen, welches 217 Arbeitskräften auf der betreffenden Baustelle einsetzte. Die Bezirkshauptmannschaft Murtal, welche die gegenständlichen Strafen verhängte, betrachtetet den Einsatz der Arbeitskräfte als Arbeitskräfteüberlassung und nicht als Arbeitskräfteentsendung. Das Resultat war eine verhängte Geldstrafe gegen den Geschäftsführer des kroatischen Unternehmens in Höhe von EUR 3.255.000! Weiters wurden auch über sämtliche (der damals vier) Vorstände der österreichischen Gesellschaft Geldstrafen von je EUR 2.604.000 und EUR 2.400.000 verhängt, was gegenständlich im Falle der Uneinbringlichkeit einer Ersatzfreiheitsstrafe von um die viereinhalb Jahre entsprach.
Wenig überraschend wurden gegen die Straferkenntnisse der Bezirkshauptmannschaft Murtal Beschwerden beim zuständigen Landesverwaltungsgericht erhoben. Dieses hatte daran Zweifel, dass die dem Vorgehen der Behörde zugrundeliegenden nationalen Rechtsvorschriften sowohl mit der EU-Dienstleistungsfreiheit als auch mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen in Widerspruch stehen könnten.
Das Unionsrecht fordert – vor allem in Richtlinien – so gut wie immer, dass die Mitgliedsstaaten in ihrer Umsetzung bzw der Anwendung des Unionsrechts entsprechende Sanktionsmaßnahmen vorsehen, um die Effektivität unionsrechtlicher Grundlagen zu gewährleisten. Im hier an den EuGH vorgelegten Fall kamen jedoch Aspekte ins Spiel, die im Zusammenwirken dazu geführt hatten, dass der EuGH einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit erkannte. Dies lag darin begründet, dass die relevanten österreichischen Bestimmungen den Gerichten zwar einen Ermessensspielraum bei der Strafbemessung einräumen, sich jedoch durch das Zusammenwirken von Kumulationsprinzip und hohen Mindeststrafen selbst bei der Verhängung der niedrigsten möglichen Strafen eine sehr hohe Gesamtstrafe ergab. Die hier relevanten arbeitsrechtlichen Bestimmungen sehen für jede/n Arbeitnehmer/in eine Geldstrafe von EUR 1.000 bis EUR 10.000 vor. Im Wiederholungsfall bzw wenn mehrere Arbeitnehmer/in betroffen sind, sind noch höhere Strafen vorgesehen – der höchstmögliche Strafrahmen beträgt EUR 4.000 bis EUR 50.000. Hinzu kommt noch – neben den hohen Ersatzfreiheitsstrafen –, dass das Verwaltungsgericht bei einer Bestätigung eines Straferkenntnisses einer Behörde einen Kostenbeitrag von 20 % der verhängten Strafe auszusprechen hat.
Der EuGH wiederholte in seiner Entscheidung, dass alle Maßnahmen, die die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs untersagen, behindern oder weniger attraktiv machen, als Beschränkung dieser Freiheit zu verstehen seien. Darauf kann sich auch der Empfänger von Dienstleistungen beziehen. Die gegenständlichen Verwaltungsstrafen betrafen allesamt die Verpflichtung bestimmte Arbeits- und Sozialunterlagen zu erstellen, zu führen und diese am Arbeits(einsatz-)ort bereitzuhalten. Auch dies kann aufgrund der zusätzlichen administrativen und wirtschaftlichen Kosten eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellen.
Im vorgelegten Fall kam der EuGH zum (Zwischen-)Ergebnis, dass die strafbehafteten nationalen Regelungen eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellen. Weiters führte das Gericht aus, dass diese Regelungen zur Bekämpfung von Sozialbetrug und Verhinderung von Missbräuchen zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehören und zur Erreichung dieser Ziele geeignet seien. Jedoch habe die Härte der verhängten Sanktionen der Schwere des mit ihr geahndeten Verstoßes zu entsprechen.
Das Kumulationsprinzip für sich genommen ist jedoch nicht als unverhältnismäßig zu beurteilen – dies hat der EuGH klar ausgesprochen. Somit bedeutet dies noch nicht das Ende des im österreichischen Verwaltungsrecht vorgesehenen Kumulationsprinzips. Allerdings führten die vorgesehenen hohen Strafen in Verbindung damit, dass es für sie keine Obergrenze gibt, wenn der Verstoß mehrere Arbeitskräfte betrifft, zur Verhängung beträchtlicher Geldstrafen. Bemängelt wurde auch, dass die Geldstrafen einen im Vorhinein festgelegten Mindestbetrag nicht unterschreiten dürfen, sodass solche Sanktionen in Fällen verhängt werden, in denen nicht erwiesen ist, dass der beanstandete Sachverhalt von besonderer Schwere ist. Der EuGH urteilte auch, dass die vorgesehene Ersatzfreiheitsstrafe besonders schwerwiegend war und eine wirksame Durchsetzung auch ohne die zwangsläufige Verknüpfung mit Ersatzfreiheitsstrafen möglich wäre.
In Anbetracht dessen steht die österreichische Regelung nicht in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der geahndeten Verstöße, die in der Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen in Bezug auf die Einholung verwaltungsbehördlicher Genehmigungen und die Bereithaltung von Lohnunterlagen bestehen.
Angesicht dieses Urteils ist eine baldige Änderung der relevanten Strafbestimmungen zu erwarten. Derzeit kann wohl davon ausgegangen werden, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts die Nicht-Anwendung der einschlägigen Strafbestimmungen oder zumindest gebietet, verhältnismäßige Sanktionen zu verhängen. Fraglich ist weiters, wie der österreichische Gesetzgeber die Verhängung von Ersatzfreiheitsstrafen in Zukunft regeln wird. Das Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit ("PersFrBVG") sieht eine Höchstgrenze bei weisungsgebundenen Behörden von je (!) sechs Wochen (Ersatz-)Freiheitsstrafe vor. Möglicherweise wird das in Zukunft – in Verbindung mit diesem EuGH-Erkenntnis – als absolute Höchstgrenze angesehen werden. Aber auch ohne diese aktuelle EuGH-Erkenntnis ist die aufgrund des Kumulationsprinzip bestehende Möglichkeit der Verhängung von mehrjährigen Ersatzfreiheitsstrafen durch nicht unabhängige Verwaltungsbehörden aus verfassungsrechtlicher Sicht als bedenklich einzustufen.