Der Dieselmotor und die österreichische Gerichtsbarkeit

In der öffentlichen Wahrnehmung ist der sogenannte „Dieselskandal“ bereits lange her und wird medial durch die Wende hin zur E-Mobilität mit all ihren Begleiterscheinungen überdeckt. In der Praxis vieler österreichischer Gerichte, nicht zuletzt auch beim OGH, dem Höchstgericht, ist der Dieselmotor hingegen weiterhin Tagesthema. Hunderte Fälle sind dem Vernehmen nach allein beim OGH noch abzuarbeiten, und wohl mehrere tausend drängen aus den Vorinstanzen nach. Das folgt einem europäischen Trend: Der deutsche BGH musste wegen der beispiellosen Fall-Schwemme einen eigenen „Hilfs-Senat“ bilden, der sich nun ausschließlich mit Schadensersatzansprüchen aus unerlaubter Handlung bei sogenannten Diesel-Sachen beschäftigt (Senat VIa).

Bei sehr vielen dieser Fälle in Österreich und Deutschland sind die zugrundeliegenden Prozessbehauptungen sehr ähnlich, wenn nicht sogar ident. Das hat ganz praktische Gründe: Die Klagen werden zu großen Teilen von den gleichen Klägerkanzleien eingebracht, die im Regelfall nur die Namen der Kläger und die technischen Daten des klagsgegenständlichen Fahrzeugs ändern. In der Praxis machen es sich manche Kanzleien sogar so einfach, dass sie technische Daten eines Herstellers einfach im copy-paste-Verfahren auch in das Klagsvorbringen bei anderen Herstellern kopieren. Die Kläger schießen also „ins Blaue“ und erwarten sich, dass zB bei VW festgestellte technische Eigenschaften auch bei Fahrzeugen anderer Hersteller genauso zutreffen.

Das Thermofenster

Eines der Themen ist beispielsweise, in welchem Außentemperaturbereich die Abgasrückführung aktiv ist. Darunter versteht man, dass bereits entstandene Abgase aus dem Verbrennungsvorgang gemeinsam mit Außenluft neuerlich in den Verbrennungskreislauf eingeleitet und „verbrannt“ werden, um dadurch unter dem Strich die Emissionen des Dieselmotors zu senken. Dieses technische Konzept ist allgemein verbreitet und auch sinnvoll und hat nichts mit der "Schummel-Software" zu tun, die den Diesel-Skandal ins Rollen brachte. Technisch ist es aber nicht bei jeglicher Außentemperatur umsetzbar, weil sonst zB Eiskristalle in den Kreislauf gelangen und Schäden verursachen können. Gleichzeitig verbietet das EU-Recht (VO 715/2007) Abschalteinrichtungen in Fahrzeugen, durch welche die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems „unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird“. Daran entzündete sich eine bis zum EuGH geführte Debatte darüber, ob nun ein Drosseln oder Deaktivieren der Abgasrückführung außerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs (sogenanntes "Thermofenster") dem normalerweise erwartbaren Fahrzeugbetrieb entspricht oder nicht. Und für welche Gegend in der EU gilt was? In Finnland wird es etwa regelmäßig bis zu -40 Grad Celsius kalt. In Österreich betrug die Außentemperatur im Jahresmittel im Jahr 2023 hingegen 8,7 Grad Celsius. In südlichen EU-Mitgliedstaaten ist es noch deutlich wärmer.

Allgemeingültige Antworten sind angesichts der dehnbaren Definition und unterschiedlicher technischer Konfigurationen verschiedener Fahrzeugtypen somit nicht möglich. So sprach der EuGH daher (nur) für den VW-Motor EA189 aus, dass das dort verwendete Thermofenster zwischen 15 und 33 Grad Celsius eine Abschalteinrichtung darstellt und unzulässig ist, weil diese Abschalteinrichtung unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeugs gewährleistet ist (EuGH Rs C‑145/20). Vereinfacht gesagt: Der Temperaturbereich, in dem die Abgasrückführung aktiv ist, war zu schmal. Nach den Tatsachenfeststellungen im Anlassverfahren hat die Abgasrückführung dadurch lediglich für ungefähr sechs Monate pro Jahr voll funktioniert.

Aktuelle Herausforderungen der Gerichte

Wie oft in Massenverfahren schaffen solche Leitentscheidungen aber nicht unbedingt nur größere Klarheit, sondern sind auch eine Ablenkung. Kläger bringen nun vor, Thermofenster seien immer eine Abschalteinrichtung, die grundsätzlich verboten sei. Deswegen müssten alle Fahrzeughersteller ihre Emissionsstrategien offenlegen und sich freibeweisen, warum gerade ihr Fahrzeug ausnahmsweise in zulässiger Form konstruiert sei. Das ist verfehlt. Die Definition in der Verordnung stellt darauf ab, was bei normalen Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten ist. Bei tiefwinterlichen Temperaturen ist aber beispielsweise nicht vernünftigerweise zu erwarten, dass die von der Außentemperatur abhängige Abgasrückführung genau gleich funktioniert wie bei Temperaturbereichen, die im überwiegenden Teil des Jahres vorherrschend sind. Was aber vernünftigerweise wirklich zu erwarten ist, darüber kann man freilich streiten.

Wird nun ins Blaue hinein ein technisch unzulässiger Zustand eines Fahrzeugs behauptet, muss das derjenige beweisen, der diese Behauptung aufstellt. In der Praxis führt dies dazu, dass technische Sachverständige beauftragt werden, um mit ihrem Fachwissen Aussagen darüber zu treffen, wie die Emissionssteuerung beim konkreten Diesel-Fahrzeug funktioniert. Bei tausenden Fällen vor den Erstgerichten sind diese Sachverständigen in Österreich (über)ausgelastet, ebenso wie die sie beschäftigenden Richter. Auch weitere Leitentscheidungen des OGH sind nur sehr bedingt verallgemeinerungsfähig, weil eben sehr viele verschiedene Fahrzeuge mit unterschiedlichen Emissionskontrollsystemen mit technisch sehr unterschiedlichen Konfigurationen auf Österreichs Straßen unterwegs sind.

Schadenersatz ohne Schaden

Die Justiz reagiert auf diese praktischen Herausforderungen und Überlastungen mit Verallgemeinerungen, die auf Kosten der Genauigkeit von Entscheidungen einfache Lösungen ermöglichen. Eine rezente Entwicklung hier ist etwa, dass der OGH rundweg darauf verzichtet, tatsächliche Wertverluste von konkreten Fahrzeugen durch (welche?) Abschalteinrichtungen feststellen zu lassen und meint, Schadenersatz gäbe es auch ohne echten Schaden (Wertverlust), weil das für die Effektivität und die Abschreckungswirkung des Schadenersatzrechts notwendig sei (OGH 10 Ob 27/23b). Damit folgt er dem deutschen BGH (VIa ZR 335/21), und kommt zufällig auch zu den gleichen angemessenen Prozentzahlen, die als Ausgleich für die ungewollte Abschalteinrichtung zu zahlen sein sollen: 5 bis 15 Prozent des Kaufpreises nach freier Überzeugung des Erstrichters. Man kann es auch "Würfeln" nennen.

Die realen Marktwerte der Fahrzeuge werden nach Aussagen von Sachverständigen übrigens praktisch gar nicht von Abschalteinrichtungen berührt, weil die wesentlichen Kaufkriterien nach wie vor Größe und Geschwindigkeit sind, und nicht die Emissionskontrolle. Im Einzelfall kann das natürlich auch anders sein. Aber mit Einzelfallgenauigkeit hat die Rechtsprechung zum Dieselskandal nur mehr wenig zu tun. Auch das ist ein Skandal.